Gehörst Du auch zu den Leuten, die seit Ihrer Kindheit an den Strand laufen, sich die Hosen
einnässen, Meter für Meter Wasserlinie absuchen und jeden braunen Stein in die Hand nehmen? Es könnte ein Bernstein
sein. Gehörst Du auch zu denen, die niemals einen echten Bernstein gefunden haben? Wir auch!
Aber wir sind der Sache jetzt auf den Grund gegangen. Schließlich hatten wir bei dem Starkwind Zeit und surften den
ganzen Tag am nichtvorhandenen Internetanschluss im Hafenkiosk. Hier ist das erschütternde Ergebnis der Recherche. Es
wird für ähnlichen Aufruhr in der Medienwelt sorgen, wie die Entdeckung der Hitlertagebücher...
Seit ungefähr 40 Jahren hält sich insbesondere im deutschsprachigen Raum das Gerücht, dass die Ostsee einen künstlichen
Edelstein nach stürmischen Tagen freigibt und an den Strand spült. Es handelt sich hierbei um den sagenumwobenen
Bernstein. Eine Art Ur-Baumharz, der im Ostsee-Urwald von verletzten Bäumen abgesondert wurde und durch Kompression
über die Jahrtausende zu einer steinähnlichen Konsistenz erstarrt sein soll. So weit die Theorie.
Zuerst entdeckt wurde dieser künstliche Edelstein am Strand von Warnemünde im Sommer 1966, als Liselotte Matschurek
beim Muschelsuchen mehrere kleine honigfarbene durchsichtige Steinchen entdeckte. Diese Steinchen erschienen ihr
äußerst attraktiv und da sie damals schon eine wenig kommunistische Einstellung an den Tag legte, verarbeitete sie
die Steine mit ihren Muschelfunden zu Souvenirs für die Sommerfrischler aus Ostberlin.
Wie kam es aber dazu, dass Lilo diese Steinchen überhaupt finden konnte?
Ein paar Monate zuvor ereignete sich im VEB Plaste und Elaste an der Unterwarnow ein kleiner Störfall. Ronny
Wilkowski, erster Mechanisator am Komponentenmischer für die Plastikskala des neuen volkseigenen Weltempfängers
Vaterland 1970, hatte nach einer durchzechten Nacht mit seinen Kumpels ein wenig den Überblick über Mischungstemperatur
und das Verhältnis der beiden Plaste-Komponenten verloren. Man könnte auch sagen: Er schlief selig seinen Rausch aus,
während unter ihm in der Mischtrommel die Reaktionstemperatur der fünf Tonnen Harz und Härter in bedrohliche Höhen stieg.
Die eben noch klaren Komponenten bräunten wie gut karamellisiert durch. Bevor aber ein Brand entstehen konnte, wurde
das Malheur durch den Schichtleiter Bernd Bransen durch das Drücken des Not-Aus-Knopfes verhindert.
Einen ähnlichen Knopf hätte sich Ronny Wilkowski mit seinen Kopfschmerzen an seinem Schichtleiter auch gewünscht, denn
dieser beendete sein unkontrolliertes Brüllen in der Mischzentrale erst nach mehreren Minuten.
Ein schnell in die Hand gedrücktes „Petermännchen“ sorgte für Entspannung und gemeinsam begannen die beiden zu überlegen,
wie das Problem so unauffällig wie möglich aus der Welt geschaffen werden könnte.
Ronny kam schließlich auf die rettende Idee, den mobilen Mischkübel kurzerhand an die werkseigene Kaimauer zu fahren
und die noch flüssige Plaste in die Warnow abzukippen.
So wurde dann schleunigst verfahren, bevor die Tagsschicht an diesem dunklen Wintermorgen Ronny und Frühschichtleiter
Bransen ablösen würde.
Leider war die Idee nicht ganz ausgereift, da beim Auftreffen der Plaste auf die Wasseroberfläche, die fünf Tonnen
Karamellplaste zu einem ca 12 Meter langen und 4 Meter breiten honigfarbenen Floß auszuhärten begann.
Wilkowski und Bransen wechselten panische Blicke und stießen das Floß immer wieder vom Kai ab, bis das Floß endlich von
der Strömung der Warnow erfasst wurde und im Morgennebel entschwand.
Um zehn Uhr des gleichen Tages patroullierte der volkseigene Minensucher „Vormann Lenin“ vor Warnemünde als zwei
Seemeilen backbord voraus sich ein braunes schiffsähnliches Gebilde kurz aus dem Morgennebel herausschob und wieder
in ihm verschwand.
Kapitänleutnant Dankwart und sein Steuermann Egbert Molsen schauten irritiert auf das Radargerät, dass kein Radarecho
aufzeigte. Was war das für ein Schiff?
Volksgenossen, die in die BRD flüchten wollten, konnten kaum die Erbauer sein. Wie sollten die unbemerkt ein derart
großes Boot in den bewachten Küstenstreifen verbracht haben können. Es musste also ein Angriff des kapitalistischen
Nachbarstaates sein. Vielleicht ein neues Spionageschiff, dass an der Warnowwerft volkseigene neue Technik ausspionieren
wollte.
Nach einer kurzen Schilderung des Sachverhaltes über Funk erhielt die „Vormann Lenin“ die Schießerlaubnis durch den
Leitenden Ofizier des Küstenwachbataillons. Von dieser wurde dann auch umgehend Gebrauch gemacht, als zehn Minuten später
das vermeintliche Spionageschiff wieder aus dem Nebel hervorglitt.
Eine gezielte Salve aus den beiden Bordkanonen ließen das braune Etwas in Millionen kleine braune Teile zerspringen.
Als die „Vormann Lenin“ an die Unglückstelle kam, trieben nur noch einzelne braune Plastebröckchen mit Lufteinschlüssen
auf der Oberfläche der Ostsee.
Ein gutes Jahr später, am Montag den 15. Januar des Jahres 1967 wurde Bernd Bransen nach Berlin in die
Staatssicherheitszentrale nach Berlin-Schönhausen bestellt.
Schweißgebadet betrat er das Büro 401, in dem schon Major Wolenski und ein gewisser Oberst Schalk-Golodkowski auf ihn
warteten.
Seit Bransen vor zwei Wochen von diesem Termin erfahren hatte, ging er gewissenhaft sein Gewissen durch, welche seiner
Verfehlungen ihn eine derartige Befragung zu teil werden lassen könnte. Außer dem Gröhlen von „I can’t get no
satisfaction“ nach dem hastigen Genuss von 5 Petermännchen samt Köm nach der Jugendweihe seines Neffen im Oktober des
letzten Jahres, fiel ihm aber nichts ein.
So wurde er, nachdem er auf einem Holzstuhl vor einem Schreibtisch mit den zwei Uniformierten Platz genommen hatte,
sogleich von Major Wolenski, auf einen honigglänzenden Stein deutend, gefragt, ob er das schon mal gesehen hätte.
Bransen kratzte sich am Kopf, bat mit einem Blick um Erlaubnis den Stein anzufassen, die ihm nickend erteilt wurde, und
griff sich den Stein. Drehte ihn vor seinem Gesicht, zog die Mundwinkel nach unten und zuckte mit den Schultern. Er
schüttelte den Kopf und sagte: Nicht, dass ich wüsste.
Dann plusterte sich der Uniformierte mit mehr Lametta vor ihm auf, zog die Augenbrauen nach oben und begann: „Na, dann
wollen wir Ihnen mal auf die Sprünge helfen. Erinnern Sie sich noch an Ihre Frühschicht am 21. November des vorletzten
Jahres Im VEB Plaste und Elaste.
Bransen wurde abwechselnd heiß und kalt. Eine Ahnung kroch an ihm hoch und die fünf Tonnen karamellisierte Plaste lagen
wie eine Last auf seinen Schultern. Wie haben die das rausbekommen? Hat der dusselige Wilkowski wieder beim Saufen
gequatscht?
Aber der Dicke redete weiter. „Wie Sie bestimmt mitbekommen haben, sind seit letztem Sommer in Ihrer Region unter den
Sommerfrischlern diese kleinen Honigsteine in Silber oder einer Muschel eingefasst der absolute Renner. Jeder will sie
haben und selbst unsere kapitalistischen Nachbarn aus dem Westen haben den Braten schon gerochen und sind ganz verrückt
nach dem Zeug. Wir haben diese Steine analysieren lassen. Welche Zusammensetzung die Steine haben, können sie sich
bestimmt denken. Nur leider ist es uns noch nicht gelungen den Reaktionsprozess nachzuvollziehen. Da Sie ja vom Fach
sind, können Sie uns vielleicht auf die Sprünge helfen?!“
Bransen traute seinen Ohren nicht. Die Steine sind das Produkt seiner Frühschicht? Selbst seine Frau hatte sich für
teures Geld von ihm eine Kette schenken lassen... Das er da nicht früher drauf gekommen war.
Nun denn. Um die Geschichte abzukürzen: Bernd Bransen wurde zum Forschungsleiter „Honigstein“ befördert. Unter seiner
Aufsicht wurden in den Folgejahren tausende von Tonnen Honigstein produziert. Die Abteilung KoKo, die für die Beschaffung
von Auslandsdevisen zuständig war, blühte unter der Leitung des Oberst Schalk-Golodkowski auf. Es gab eine eigene
Einheit, die ausschliesslich mit der Legendenbildung beschäftigt war. Sie erfand frühkünstliche Grabbeigaben aus
Honigstein. Sie kümmerte sich um die wissenschaftlichen Erklärungen für die Herkunft der Steine. Sorgte nach Absprache mit
den Geheimdiensten der Brüderstaaten für neue Funde an deren Küsten (gegen harte US-Dollar, versteht sich) und nicht
zuletzt schrieb sie die Geschichte des Bernsteinzimmers um, dass im Original eigentlich aus Schildpatt gefertigt
wurde.
Nach einer gewissen Zeit erschlaffte ein wenig das Interesse am Bernstein. So musste ein neues Produkt entwickelt werden.
Mit sogenannten Einschlüssen wurde jetzt Bernstein verkauft, in dem Fliegen und andere Hausinsekten eingegossen waren.
Erinnerst Du Dich noch an die Fliegenfänger mit diesem klebrigen Zelloloid, die in den 70er Jahren geringelt von jeder
Zimmerdecke des Landes hingen? Was meinst Du wohl, worin die Fliegenleichen verarbeitet wurden?
...und richtig. Hätte ich fast vergessen. Bernstein... der Name. Weil auch in der Stasizentrale in Berlin ein gewisser
Humor nicht zu unterdrücken war, einigte sich die Namensfindungskommission der Einheit „Legende“ das Produkt unter
dem Namen Bernstein zu vermarkten. Schliesslich hat den Bernd Bransen entwickelt....den Bern(d)stein.
...und jetztnoch ein paar Bilder
|